Mein Alkoholentzug half mir, meine Magersucht hinter mir zu lassen.

Mein Alkoholentzug half mir, meine Magersucht zu überwinden.

Auslösewarnung: Dieser Artikel behandelt Essstörungen und Alkoholismus.

Vor kurzem schoss mir ein Gedanke durch den Kopf – etwas Negatives über meinen eigenen Körper und darüber, was ich gegessen hatte oder gerade aß. Mit solchen Gedanken beschäftige ich mich bereits seit etwa 16 Jahren. Der Gedanke selbst war also nicht neu. Meine Reaktion darauf jedoch schon – denn ich beschloss sofort, den Gedanken zu ignorieren.

15 Jahre lang ließen mich jede negative Gedanken über meinen Körper, Sport oder Ernährung nicht mehr los. Mit 16 Jahren wurde bei mir offiziell eine Anorexia nervosa (Magersucht) diagnostiziert, und selbst während der Jahre, in denen ich dachte, auf dem besten Weg zur Heilung zu sein, haben mich diese Gedanken völlig aus der Bahn geworfen. (In der Zwischenzeit waren meine Ärzte der Meinung, ich sei bereits “geheilt”, weil ich nicht dem Bild entsprach, das sich viele von einer Essstörung machen. Aber das ist ein anderes Thema.) In solchen Situationen geriet ich in einen Gedankenstrudel und fiel in die gleichen toxischen Verhaltensmuster zurück, wegen denen ich während meiner Jugend fast im Krankenhaus gelandet wäre.

Aber heute, mit 31 Jahren, kann ich diese Gedanken größtenteils abschütteln – und das, obwohl sie mich vor knapp einem Jahr völlig aus der Bahn geworfen hätten. Was hat meine Einstellung zu meinem Körper seitdem so radikal verändert? Ich glaube, es liegt daran, dass ich seit über 600 Tagen nüchtern bin.

Als ich etwa 18 Jahre alt war, begann ich viel zu trinken. Zu der Zeit war das noch ziemlich normal. Alle tranken. Alle waren verkatert. Alle hatten am nächsten Tag einen Filmriss. Wir waren jung, dumm und unerfahren. Aber dann wurden meine Freunde langsam erwachsen und hörten auf, exzessiv Alkohol zu trinken – und ich verstand nicht, warum es bei mir anders war. Warum ich jedes Mal, wenn ich trank, total eskalierte, selbst wenn ich es gar nicht wollte. Egal wie sehr ich im Laufe der Jahre versuchte, mein Trinkverhalten zu kontrollieren: Ich bekam es einfach nicht in den Griff.

Es ist schwer, sich selbst zu lieben, wenn man immer schön bescheiden und selbstkritisch sein soll. Und es ist vor allem schwer, sich selbst zu lieben, wenn man sich 15 Jahre lang nur Enttäuschung, Scham und Hass entgegengebracht hat.

Tatsächlich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die Essstörungen und Drogenmissbrauch als Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) festgestellt haben. Eine Studie von 2013, veröffentlicht im Journal of Studies on Alcohol and Drugs, ergab beispielsweise eine “höhere Wahrscheinlichkeit einer Alkoholsucht bei Frauen mit Essstörungen, die zum Binge-Eating oder ausgleichendem Verhalten neigen”. (Letzteres bezieht sich beispielsweise auf Gewohnheiten wie übertriebener Sport oder selbst auferlegte Nahrungsbeschränkungen.)

Es ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass einige der Merkmale, die viele Menschen mit Essstörungen aufweisen, genau diejenigen sind, die Menschen oft dazu bringen, exzessiv zu trinken. Eine Studie des Australian and New Zealand Journal of Psychiatry ergab, dass 65 Prozent der Frauen mit Essstörungen auch mindestens einer Angststörung entsprachen. Stress, Angst und Unruhe spielten auch für mich (und viele andere) eine große Rolle bei meinem Konsum. Ich war rund um die Uhr so gestresst und ein Glas Wein (oder sechs) half mir, dieses Gefühl zu betäuben.

Wir haben es also mit zwei Störungen zu tun, die sich gegenseitig auf die schlimmstmögliche Art und Weise ergänzen und verstärken. Ein paar Jahre nach meiner Essstörung begann ich zu trinken und die beiden verstärkten sich gegenseitig. Ich trank, um mich in meinem Körper selbstbewusster zu fühlen. Alkohol trieb mich dann dazu, um 3 Uhr morgens Burger bei McDonald’s zu holen, und den ganzen nächsten Tag faul auf der Couch zu liegen. Um mich danach besser zu fühlen, trank ich wieder. Und so weiter.

Alkohol kann deinen Selbstwert zerstören und was wir oft vergessen – vor allem, wenn wir uns nach dem zweiten Glas Champagner großartig fühlen – ist seine depressive Wirkung. Mit anderen Worten: Er macht depressiv. Und wir wissen alle, dass ein Kater zu Angst und Unruhe führen kann, oder?

Nach dem Trinken wachte ich immer voller Scham, Selbsthass und innerer Unruhe auf, und die kleine Stimme meiner Essstörung liebte es, diesen Zustand auszunutzen, um mich zurück in das Loch zu ziehen, das sich in mir im Alter von 16 Jahren gebildet hatte. Während ich also brav zur Therapie ging, um meine Beziehung zu meinem Körper zu heilen, habe ich mir selbst alles kaputt gemacht, indem ich jedes Wochenende betrunken war.

Und dann habe ich einen Entzug gemacht.

In den ersten paar Monaten meiner Nüchternheit ging es vor allem darum, meine Zeit irgendwie zu füllen – meinen Kopf abzulenken, sodass er nicht bemerkte, dass ein großer Teil meines Lebens plötzlich fehlte. Ich fing an zu schreiben. Ich kreierte viel Kunst. Es war Sommer und fast jedes Wochenende fuhr ich an den Strand. Ich ging wandern mit meinem Partner. Ich begann, lange Strecken zu laufen.

Ich habe jetzt keine Zeit, mir über so etwas Gedanken zu machen, dachte ich ungeduldig. Es gibt wirklich Wichtigeres.

Irgendwann bemerkte ich, dass ich… nun ja… beeindruckt von mir selbst war. Das hat mich irritiert, denn die Gesellschaft lehrt uns eigentlich, dass wir uns niemals selbst loben sollten. Manchmal dachte ich jedoch Dinge wie: Wow, ich bin heute wirklich weit gelaufen oder: Dieser Satz, den ich gerade geschrieben habe, hört sich super an. Ich war abwechselnd überrascht und begeistert von der Funktionsweise meines Körpers – wie er sich bewegte und was er schuf.

Das mag kitschig klingen und das war es auch. Es ist schwer, sich selbst zu lieben, weil man immer schön bescheiden und selbstkritisch bleiben sollte. Und es ist besonders schwer, sich selbst zu lieben, wenn man sich 15 Jahre lang nur Enttäuschung, Scham und Hass entgegengebracht hat.

Meine Nüchternheit ließ mich aber nicht nur erkennen, wozu mein Körper so fähig war (und nicht bloß, wie er aussah), sondern stellte mein ganzes Leben auf den Kopf. Ich begann neue Hobbys, lernte neue Leute kennen. Ich fing an, meine Zukunft zu planen. Und als dann vor Kurzem diese Zwangsgedanken meiner Essstörung versuchten, mein Gehirn zu kapern, schickte ich sie einfach wieder weg. Ich habe jetzt keine Zeit, mir über sowas Gedanken zu machen, dachte ich ungeduldig. Es gibt wirklich Wichtigeres.

Mein Körper war nicht länger etwas, was ich bestrafen musste – sondern etwas, was ich brauchte, um all meine Ziele zu erreichen. Er wurde für mich etwas Wertvolles, und das weit über sein Äußeres hinaus.

Genau das ist die Lektion, die mir meine Nüchternheit erteilte: Es gibt wirklich Wichtigeres. Wie zum Beispiel das, was ich tun und erschaffen kann; wie die Menschen um mich herum; wie die Ziele, die ich mir in meiner Karriere und meinem Leben gesetzt habe.

Ich will damit nicht sagen, dass alle Betroffenen einer Essstörung unbedingt den Alkohol aufgeben sollten – oder auch nur, dass sie das auf wundersame Art „heilen“ könnte. Ich glaube, nicht mal ich bin wirklich geheilt; denn Essstörungen sind sehr komplexe Dämonen.

Ich habe aber sehr wohl das Gefühl, zum ersten Mal wirklich auf dem Weg der Heilung zu sein, und ich weiß, dass ich das zum Teil meiner Nüchternheit zu verdanken habe. Sowohl der Alkoholmissbrauch als auch eine Essstörung kann dich so dermaßen vereinnahmen, dass es dir schwer fällt, dir ein Leben ohne diese Zwänge vorzustellen. Manchmal dreht sich der ganze Tag um eine solche Störung. Und wenn sie besonders schlimm ist, kann sie zu extremer Einsamkeit führen – und dazu, dass diese immer wiederkehrenden Gedanken deine einzige Gesellschaft sind.

Indem ich Alkohol aus meinem Leben gestrichen habe, habe ich mir selbst bewiesen, dass ich auch ohne Alkohol als Krücke funktionieren kann. Und während sich mein Leben immer weiter füllte und andere Dinge Raum in meinem Alltag einnahmen, fühlte es sich irgendwann so an, als sei auch für meine Essstörung gar kein Platz mehr. Der Nebel aus Scham und Selbsthass in meinem Kopf begann sich zu lichten, und mein Körper war nicht länger etwas, was ich bestrafen musste – sondern etwas, was ich brauchte, um all meine Ziele zu erreichen. Er wurde für mich etwas Wertvolles, und das weit über sein Äußeres hinaus.

Ist das, was ich heute fühle, Body Neutrality? Ist es Liebe? Um ganz ehrlich zu sein, weiß ich das selbst noch nicht ganz. Ich glaube aber, dass mein Körper ganz allmählich verheilt.

Wenn du glaubst, selbst an einer Essstörung zu leiden oder ein Problem mit Alkohol zu haben, oder eine Person kennst, bei der das sein könnte, findest du Hilfe beim ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen bzw. auf Kenn-dein-Limit.de oder beim Infotelefon der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Suchtvorbeugung unter 0221 892031.

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